Das Urteil
Die Männer des Königs hatten den Kaiser verhaftet und gegen Bajkas Befehl, hatte man auch Eola in Ketten gelegt, dann jedoch auf ihr Zimmer zurückkehren lassen. Ausgerechnet die Königinmutter hatte dafür Sorge getragen, obwohl Eola sich nicht mehr sicher war, auf wessen Seite sie eigentlich stand. War sie es gewesen, die in den Tunneln gewandert war, wie der Kaiser es angedeutet hatte, oder nutzte man ihre Gemächer lediglich als Eingang zu den Tunneln. Nach ihrer Flucht mit Kailan hatte man ihr Zimmer verriegelt. Wirklich schlafen konnte sie nicht. Eola glitt zwar kurz vor Tagesanbruch in einen leichten Dämmerzustand, aber ihr Schlaf war unruhig und kurz. Am Morgen hatte man sie unsanft geweckt und in ein neues Kleid gesteckt, ihr ein Bad jedoch verwehrt. Dabei hätte sie wirklich ein nötig gehabt, wie ihr Bajkas gerümpfte Miene verriet, als sie zusammen mit der Zauberin in den Thronsaal geführt wurde. Die Morgensonne fiel durch die hohen Fenster und warf Streifen auf die hohe Treppe. Der König stand mit einigen Männern am Rand des Saals und unterhielt sich leise. Sonst war es bis auf das Säuseln der Winde im Dach unheimlich still. Anspannung lag in der Luft.
“Ihr werdet unter keinen Umständen direkte Worte an den König richten. Überlasst das Reden einfach mir, verstanden?”, hatte Bajka sie instruiert, bevor sie den Thronsaal betreten hatten. Eola hatte genickt und sich dann nach Kailan und Sellen erkundigt.
“Dem Jungen geht es gut. Was die rechte Hand des Lord Kamm betrifft. Er wurde schwer verletzt, aber in den besten Händen.”
Eola konnte nur hoffen, dass sie damit ihre eigenen meinte. Sie fröstelte, als man sie vor die hohe Treppe führte. Dann lief der König an ihnen vorbei und ließ sich auf seinen Thron sinken. Er sah müde aus, blass und seine Finger fuhren im nervösen Rhythmus über die Lehnen des hohen Stuhls. Er hatte seinen Vertrauten verloren. Eola hatte Lord Fremms Leiche in den Tunneln gesehen. Der Anblick seines vom Körper getrennten Kopfes hatte sie selbst im Schlaf noch verfolgt. Neben der Königinmutter und den übrigen Lords und Ladys, die Eola bereits während ihrem ersten Abend auf der Burg kennengelernt hatte, waren da noch zwei neue Gesichte. Einer von ihnen musste zu Geiz Männern gehören, denn er trug dieselben Farben und das Wappen des Lord, ein Schild vor einem Hügel. Es war ganz sicher ein Lord, mit kurzem rotblondem Haar und einem sauber gestutzten Bart. Seine braunen Augen folgten Eola wachsam. Er trug Rüstung und Schwert, obwohl er hier wohl kaum mit einem Angriff zu rechnen hatte. Das zweite Gesicht gehörte einem jungen Schönling mit blonder Mähne und einem sanften Lächeln. Er trug Kleider eines Lords, ebenfalls grün und hatte nur Augen für den König.
“Lasst uns das hier schnell hinter uns bringen”, erhob Lord Eolin jetzt das Wort. “Ich muss demnächst einen Krieg führen.” Dabei lächelte er schwach und nickte einem der Gardisten zu. Die Türen zum Thronsaal öffneten sich und Lord Kamm wurde hereingeführt. Eola runzelte die Stirn. Warum lag er noch in Ketten?
“Ich habe entschieden, das hier anwesende Mädchen.” Dabei bedachte der König sie eines kurzen Blicks. “Wie heißt sie noch gleich?”
“Eola”, sagte Eola.
“Eola von der Silbersee.”
Bajka warf ihr einen bösen Blick zu, doch der König lächelte.
“Danke. Ich habe also beschlossen, sie zu begnadigen.”
Der Krieger, von dem Eola glaubte, es müsse sich um den Sohn des Lord Geiz handeln, wollte protestieren, doch Lord Eolin hob die Hand und er verstummte.
“Ihre Worte haben sich als wahr herausgestellt. Wir sind dem Kaiser der Nebelreiche habhaft werden können und das haben wir Eola zu verdanken. Hiermit sei meine Schuld dir gegenüber beglichen.”
König Eolin nickte ihr zu, dann wandte er sich dem Sohn des Lord Geiz zu.
"Ich bin mir jedoch bewusst, dass der Tod einer meiner treuesten Lords immer noch ungesühnt ist.”
Eolin machte eine Pause und der junge Lord Geiz trat vor.
“Euer Wille ist es, sie zu verschonen. Meiner ist es, meinen Vater zu rächen.”
Der König nickte.
“Und doch ist dieses Mädchen noch beinahe ein Kind. Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden, aber wer sind wir, wenn wir Kinder hinrichten? Dann sind wir nicht besser als der Kaiser.”
Zustimmendes Gemurmel wurde laut und kurz zuckte Zorn über das Gesicht des jungen Lord in der prächtigen Rüstung.
“Was schlagt ihr also vor Lord König?”
Der König wies auf Kamm.
“Der Lord von Riedhalm nahm das Mädchen in seinem Lager auf. Wie ihr seht, ist er bereits verhaftet worden. Die Verantwortung über diejenigen, denen wir vertrauen, die wir in unserem Lager aufnehmen, wiegt schwer. Lord Kamm hätte sich dieser Verantwortung bewusst sein müssen. Jeder Lord, ihr alle hier, tragt eine solche Verantwortung.”
Lord Kamm hatte stolz den Kopf erhoben und selbst als man ihn so demütigte, sank sein Kinn keinen Millimeter. Eola wollte etwas sagen, doch Bajka legte ihr eine Hand auf die Schulter und zischte ihr ins Ohr.
"Ihr seid still Kind. Die Erwachsenen reden.”
Eola knirschte mit den Zähnen, sagte jedoch nichts. Das ganze war ausgemachter Unsinn. Niemand war am Tod des Lord Geiz Schuld, außer er selbst und erst recht nicht Lord Kamm.
“Ich werde euch, Lord Elken, die Entscheidung überlassen, was mit dem schuldigen Lord geschehen soll. Allerdings appelliere ich an eure Gnade. Lord Kamm ist ein guter Mann, ehrenhafter und hat mir stets treu gedient.”
Lord Elken nickte und verbeugte sich.
“Danke, Lord König. Ich höre euren Appell. Allerdings kann der Tod nur mit einem gesühnt werden. So ist es brauch in den Hügelländern.”
Der König seufzte.
“Ich hatte befürchtet, dass ihr das sagt.”
“Der Lord Kamm muss für seine Verfehlungen hängen, Lord König. Es führt kein Weg daran vorbei. Nur dann wird mein Vater in Frieden ruhen.”
Eola schnaubte, sie konnte sich nicht länger zurückhalten.
“Es war ein Unfall. Seine eigene verdammte Schuld. Ihr hängt einen Mann, der zehnmal besser war als Geiz. Das hier ist keine Gerechtigkeit, sondern bloße Willkür.”
Lord Elken fuhr zu ihr herum und funkelte sie an.
“Ihr solltet eure Zunge hüten. Sonst schneid ich sie euch…”
“Ruhe!”, rief der König. Er war aufgestanden und Zorn stand in seinem Gesicht.
“Bringt eure neue Schülerin zum Schweigen Zauberin. Sie scheint vergessen zu haben, mit wem sie spricht.”
"Oh, ich weiß genau, mit wem ich spreche. Einem Feigling von einem König, der vor dem Zorn seiner Lords in Angst verfällt. Einem König, der nicht weiß was unter seiner eigenen Burg geschieht. Bevor ich euch den Kaiser geliefert habe, habt ihr vor ein paar Worten auf Papier gezittert.”
Die Augen des Königs hatten sich zu Schlitzen verengt, doch Eola kam gerade erst in Fahrt.
“Ihr zieht den Sohn eines Mannes, der sich im Rausch in seinen eigenen Dolch stürzt, dem eines Mannes vor, der ohne zu zögern hilft, wenn jemand in Not ist. Eure eigenen Mutter…”
Weiter kam sie nicht, denn Bajka trat jetzt vor sie und verpasste ihr eine Ohrfeige, die es in sich hatte. Ihr Kopf wurde zur Seite gerissen und es klingelte ihren in den Ohren. Eola konnte spüren, wie ihr Gesicht rot anlief. Yahre hatte ihr Zeit ihres Lebens zwei Ohrfeigen verpasst. Einmal als sie über Bord gegangen war, weil sie auf den höchsten Mast geklettert war und dann als sie Eola beim Klauen erwischt hatte, nicht etwa bei Landratten oder bei einem der Marktgänge, auf denen ihr Yhare selbst das Stehlen beibrachte, sondern bei einem ihrer Maat, der sie immer gut behandelt hatte. Sie alle verblassten gegen diese. Eola starrte die Zauberin ungläubig an, doch im schönen Gesicht der Lady stand keine Wut oder Zorn, nur Enttäuschung. Es traf sie tiefer, als wenn sie ihr ins Gesicht gespuckt hätte.
“Eure Entscheidung ehrt mich, Lord. Und die Kleine auch. Ich werde ihr die Flausen noch austreiben.”
“Flausen?”, fragte Lord Elken. “Für diese Anmaßungen sollte sie hart bestraft werden, Zauberin.”
Bajka zog eine Augenbraue hoch und sah einmal an dem Lord auf und ab.
“Sie steht ab heute unter meinem Schutz und ich werde selber entscheiden, wie ich meine Schülerin bestrafe.”
Lord Elken grinste.
“Natürlich Grabmutter.”
Bajka zuckte nur ganz leicht zusammen und von einiger Entfernung hatte man es vermutlich gar nicht bemerkt, aber Eola sah es und runzelte die Stirn. Sie war sich sicher, dass Lord Elken wusste, dass er sie damit beleidigte. Eolin seufzte und straffte die Schultern.
“Nun gut. Ich hoffe, sie ist es wert, Milady. Als nächstes möchte ich mich dem zuwenden, was uns allen bevorsteht. Die Macht des Kaisers ist gebrochen. Wir haben Grund zur Annahme, dass seine Oligarchen fürchten, die Kontrolle über die Akademie zu verlieren. Unsere Zauberin hat einen Plan, die Magier auf unsere Seite zu ziehen.”
Bajka nickte, sagte jedoch nichts dazu.
“Ihr hüllt euch also weiter in Schweigen, meinetwegen. Ich vertraue euch. Eurem Urteil haben wir es zu verdanken, dass der Kaiser in unserem Kerker sitzt. Ich möchte, dass ihr das Verhör übernehmt, Lady Bajka.”
“Natürlich, Lord”, sie deutete einen Knicks an.
“Dann seid ihr entschuldigt. Ich muss mit Lord Elken unter vier Augen sprechen.”
“Natürlich, Lord”, wiederholte Bajka, dann wandte sie sich um und schob Eola vor sich her zur Tür.
“Das kann doch nicht Sein ernst sein, Lord Kamm hat nichts verbrochen, er ist unschuldig, sie können ihn doch nicht einfach hängen. Das dürfen sie nicht.”
Bajka seufzte.
“Und ob er das kann, er ist schließlich der König, Liebes. Und jetzt hör auf hier unruhig hin und her zu stromern, du machst mich ganz nervöse.”
Eola blieb stehen und sah Bajka an. Sie hatte hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen und die Ärmel ihres schwarzen Kleides hochgekrempelt. Darunter waren wieder die Runen zum Vorschein gekommen, die Eola auch bei ihrem ersten Treffen bemerkt hatte, in blasser Tinte, nur schienen es andere als am Tag ihrer ersten Begegnung.
“Und was gedenkt ihr dagegen zu unternehmen?”
Bajka beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, während sie ihr Kinn sacht aus den gefalteten Händen ablegte.
“Gar nichts. Ich unterstütze die Entscheidung des Königs. Erstens ist das Haus Riedhalm für unsere Bemühungen weniger wichtig als das Haus Geiz und zweitens bleibst du dadurch am Leben. Du solltet dem König dankbar sein, dass er Gnade walten lässt.”
“Gnade? Ich soll dankbar sein? Ihr habt gut reden. Wenn sie Lord Kamm hängen, bin ich daran Schuld.”
“Richtig. Und du tätest gut daran, sein Opfer zu würdigen, anstatt es mit Füßen zu treten, indem du denjenigen beleidigst, der dich verschont hat.”
Eola schnaubte und begann erneut im Zimmer der Zauberin auf und ab zu laufen.
“Ich kann nicht… Ich muss etwas unternehmen. Er darf nicht sterben… Nicht noch mal.”
Bajka runzelte die Stirn.
“Links und rechts von mir sterben die Menschen die mir wichtig sind wie die Fliegen, aber ich überlebe? Ich profitiere davon, dass sie leiden? Das ist nicht richtig, nicht fair.”
“Das Leben ist nicht fair, Eola. Es gibt keine ausgleichende Gerechtigkeit oder irgendeine kosmische Ordnung, die Dinge ins Gleichgewicht bringt. Vielleicht ist es das, was euer Glück euch lehren will, denn es soll meine erste Lektion sein.”
“Mein Glück …”
"Ja, ich weiß davon. Es ist mir klar geworde, als ich versucht habe zu sehen, was auf Madiskat passiert ist. Du warst dort und erst habe ich die Gerüchte für Lügen gehalten. Niemand hat mehr einen Drachen gesehen, seit die Hexenmeister am Pass bei Eiblingen gegen die Nebligen gekämpft haben. Aber als ich versucht habe in deine Zukunft zu schauen, in deine Gedanken, um herauszufinden, ob du die Wahrheit sagst, konnte ich es nicht mehr von der Hand weisen. Ihr seid eine Auserwählte des Kanaahn und damit vom Glück verfolgt. Das ist der Grund, warum ihr in meinen Visionen nicht auftaucht.”
“Warum der Alb mich nicht sehen konnte.”
Bajka nickte. “Richtig. Aber jeder Segen birgt auch den Fluch, das haben meine Vorfahren bereits erkannt.”
“Ich kann Lord Kamm nicht retten, so wie ich meine Großmutter nicht retten konnte und…”
Sie brach ab. Irgendetwas hielt sie davon ab, der Zauberin von Oine zu erzählen.
“Es tut mir leid, Kind. Ich weiß wie es ist, andere ins Leid zu stürzen, vermutlich weiß ich es besser als sonst irgendjemand. Aber im Gegensatz zu dir weis ich auch, wie es ist, selbst zu leiden. Du solltet froh sein, nur eins dieser Leiden zu kennen.”
“Welches davon ist das Größere?”
“Das kommt ganz drauf an.” Bajka lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück und wirkte auf einmal sehr viel älter als sie aussah. “Das größte Leid fügen wir denjenigen zu, denen wir am nächsten stehen. Wenn ich dir einen Rat geben soll, achtet darauf, niemandem zu nahe zu kommen, das macht es einfacher.”
~
Kailan schwebte in traumloser Dunkelheit. Er hörte Stimmen von Fern, die er nicht zuordnen konnte, dann vernahm er Worte, die er kannte.
“Ich, ausgerechnet Ich, ein Lord? Was denkt der König sich nur dabei?”
Kailan musste lächeln und saß plötzlich wieder mit seinem Freund auf der steinernen Terasse in Riedhalm. Hinter ihnen das Herrenhaus der Familie Kamm und vor ihnen die sanften Hügel seiner Heimat.
"Jetzt stellt euch nicht so an. Ehre eurem Hause, ist es nicht das, was euer Vater immer für euch wollte.”
Kamm schnaubte belustigt.
“Was braucht mein Haus denn Ehre. Ich verdiene sie mir lieber im Kampf.”
“Aha?”, Kailan zog eine Augenbraue hinauf. “Welche Kämpfe denn? Das Haus Kamm ist neutral, es hat weder auf den Pass bei Eiblingen gekämpft, noch in einer der Schlachten die folgten.”
“Und das wird hoffentlich noch viele Jahre lang so bleiben. Ich meinte ja auch, wenn ich mir Ehre machen wollte.”
“Also sind die Wünsche eures Vaters euch egal?”
Kamm lachte. “Scheint ganz so. Gut, dass er im Grabe liegt. Friede seiner Seele.”
“Ich meine, ich höre ihn sich grad umdrehen”, scherzte Kailan.
“Bei allen guten Geistern, hoffentlich nicht, sonst weckt er noch Mutter und die beschallt direkt den ganzen Friedhof.”
Kailan schüttelte leicht den Kopf und nahm einen Schluck von seinem Honigbier. Es gab das Beste davon in Riedhalm und Kamm war mächtig stolz auf seine Bienenzucht.
“Lord Kamm, daran werde ich mich wohl erst gewöhnen müssen.”
Sein Freund nickte und wurde wieder ernst.
"Hoffen wir, dass es nichts mit den wachsenden Unruhen zu tun hat. Ich befürchte fast, wir können unsere Unabhängigkeit nicht mehr lange wahren.”
“Ihr macht euch wie immer zu viel Sorgen. Die Unruhen gehen vorbei. Man kann ja über den Kaiser sagen, was man will, aber er hat dem Land einen Frieden geschenkt, der bereits lange währt. Er wird noch ein paar Jahre länger halten, da bin ich mir sicher.”
Kailan fuhr hoch und setzte sich im Bett auf. Seine Schulter pochte dumpf und seinen Arm spürte er kaum. Sie mussten ihm ein betäubendes Mittel gegeben haben. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn in Watte gepackt. Er griff mit zitternden Händen nach der Schüssel neben seinem Bett und wusch sich umständlich das Gesicht. Er konnte den linken Arm nicht richtig bewegen. Trotzdem war er am Leben, was beinahe an ein Wunder grenzte. Oder Zauberei? Vorsichtig stellte er einen Fuß auf den Boden und versuchte aufzustehen. Er schwankte, hielt sich am Nachttisch fest und riss dabei die Waschschüssel um. Es polterte und deren Inhalt ergoss sich über den Boden und seine nackten Füße. Wo waren seine Sachen? Sein Schwert war beim Kampf mit dem Alb zerstört worden, aber weder sein Kettenhemd, noch der Dolch, den Lord Kamm ihm geschenkt hatte, waren irgendwo zu sehen. Da kam eine Dienerin ins Zimmer geeilt und sah ihn mit geweiteten Augen an.
“Herr, ihr müsst im Bett bleiben, die Lady hat gesagt …”
“Meine Sachen? Wo zum Schwanz einer Halmkuh sind meine Sachen, verflucht?"
Es war eine ironische Bemerkung, Halmkühe hatten keinen Schwanz, keinen am Bauch und auch keinen am Hintern, nur dicke Zitzen, aus denen sie die bitterste Milch gaben, die im Königreich je in Becher geflossen war.
“Es tut mir leid, Herr, sie haben sie mitgenommen. Euer Lord er …”
“Was ist mit ihm? Spuckt schon aus.”
Doch die Dienerin schüttelte bloß hochrot den Kopf und eilte aus dem Zimmer. Vermutlich um die Lady zu holen, die ihn hier einquartiert hatte. Bei der Erwähnung von Kamms Namen hatte sich ein unwohles Gefühl in Kailans Brust breit gemacht. Es breitete sich darin aus wie ein ungesundes Geschwür. Er humpelte zur Tür, stieß sie auf und stolperte auf den Flur. Die Welt schwankte leicht und er sackte mit der Schulter gegen die Wand. Dann stieß er sich wieder davon ab und taumelte weiter den Flur entlang. Er begegnete nur wenigen Dienern. Das Krankenzimmer lag im Erdgeschoss der Burg und vor den Flügeltüren, die in den Burghof führten, hatte sich eine Traube Diener versammelt. Er stieß jemanden fort, der ihn stützen wollte. Das Getuschel der Diener gefiel ihm nicht, warum starrten sie ihn alle an? Weil er halb nackt und verwundet über den Gang stolperte? Vielleicht … Hoffentlich …
“Lasst mich durch!”, stieß er in krächzendem Ton hervor. Er hatte kurz einen Blick auf den Burghof erhascht und seine Kehle schnürte sich zusammen. Ein Lord kam ihm entgegen, der ihm entfernt bekannt vorkam. Er wollte Kailan aufhalten, doch dieser stieß ihn wütend vor die Brust. Hinter dem Mann wehte etwas im Wind. Ein Strick an einem hölzernen Balken, daran eine schwankende Leiche. Kailan stürzte, als er die wenigen Treppenstufen in den Hof nahm und landete im Dreck vor dem eisenbeschlagenen Tor. Er sah auf und seine Eingeweide verkrampften sich. Mit leerem Blick starrte ihm Lord Kamm entgegen. Seine Augen rot unterlaufen, das Gesicht geschwollen, die Glieder im Todeskampf verrenkt.
Nein! Das konnte nicht sein, er hatte ihnen den Kaiser gebracht, oder nicht? Er war fast gestorben, für diesen verfluchten König und seinen Krieg. Kailan wollte aufstehen, doch rutschte weg. Seine Beine wollten ihn nicht tragen. Er hatte versagt.
~
Die Truppen rückten zum Nachmittag aus. Bis zur Abenddämmerung hatten sie Riedhalm erreicht. Es lag nicht weit von Ärenfels aber war bis zum Falle des Kaisers unabhängig geblieben. Nicht so die Länder dahinter, sie hatten gegen den Kaiser rebellierte, mehrfach und hatten verloren, wieder und wieder. Die Ankunft des Königs würde sie auf ihre Seite ziehen. So hatte Bajka es ihr erklärt. Eola saß auf der Ladekante einer der Wagen und schaukelte mit den Beinen, während die Burg in die Ferne rückte. Sie hatte endlich erreicht, wozu sie hergekommen war und beinahe froh, den Ahnenfels endlich hinter sich zu lassen. Zu viel war dort passiert, das sie am liebsten vergessen wollte. Eola hatte nicht mehr mit Kailan gesprochen, bevor sie ausgerückt waren. Sie wusste nicht einmal, wo er sich jetzt gerade befand. Hätte sie überhaupt Worte gefunden, für das, was passiert war? Was sagte man zu jemandem, der alles verloren hatte, nur damit man selbst das bekam, was man sich in den Kopf gesetzt hatte. Eola wusste es nicht. Sie hätte Bajka fragen können, schließlich war sie jetzt so etwas wie ihre Mentorin. Sie wusste Dinge, das war unbestreitbar. Aber ihr letztes Gespräch hatte ihr gezeigt, dass auch Bajka von Veysgrad nicht alles wusste. Die Zauberin war eine einsame Frau, da war sich Eola sicher. Wollte sie überhaupt werden wie sie? Die Landschaft zog vorbei, Felsen und Wald wurden von sanften Hügel abgelöst, die in der Abendsonne gelb leuchteten. Die Graslande lagen im Osten und im Westen glitten die fernen Berge vorbei. Irgendwo dort musste der Ayskamm liegen, von dem Lady Roswyna ihr erzählt hatte. Der Pass dort gehörte zum Plan des Königs, die Hauptstadt einzunehmen. Aber das alles hing davon ab, ob Bajka in Talanthre Erfolg hatte. Die Stadt der Magier lag im Norden, zwanzig Meilen vor der Hauptstadt und siebzehn hinter Riedehalm. Bis dahin hatte sie eine Menge Zeit, von Bajka zu lernen. Nur dass die Zauberin sich weigerte, ihr etwas beizubringen, solange sie nicht mit den Büchern fertig war, die sie ihr gegeben hatte. Also ließ sie die Berge, Berge sein und griff nach dem Buch, das sie bereits im Turm der Burg angefangen hatte. Nach einer Stunde Wegfahrt und hatte sie nur fünf Seiten geschafft und gab entnervt auf. Der Text war so kompliziert geschrieben, dass Eola sich fragte, ob er überhaupt dafür da war, dass man etwas daraus lernt. Ihr schien es vielmehr so, als bestand der einzige Sinn und Zweck der Wörter darin, den Leser in den Wahnsinn zu treiben. Krümel streckte schläfrig das Köpfchen aus einem Sack mit Nüssen, die sie für ihn bei einem Händler gekauft hatte. Er hatte sich erst lautstark beschwert, dass es kein Kuchen war, sich dann doch noch das Bäuchlein voll geschlagen und war schließlich darin eingeschlafen. Sie kraulte ihm zwischen den Ohren und sah dann zu dem Reiter auf, der sich dem Wagen näherte. Die Zauberin trug schwarze Reitkleider mit einem dunkelblauen Überwurf und schwarzen Hosen. Eola fragte sich, ob ihr darin nicht viel zu warm war, aber Bajka von Veysgrad wirkte so ausgeruht wie zu Beginn der Reise..
“Ich werde mit dem König vorweg reiten und die Ankunft in Riedhalm vorbereiten. Du bleibst bei den Wagen.”
“Warum muss ich bei den Wagen bleiben? Ich will mit euch kommen.”
“Eola!”, sagte sie streng. “Ich diskutiere nicht mit dir. Gewöhne dich besser daran meinen Befehlen ohne Widerworten zu folgen, sonst setze ich dich am nächsten Wegstein aus. Vestanden?”
Eola murrte etwas, doch die Zauberin wartete nicht auf eine Antwort. Sie schnalzte mit der Zunge und ihr schwarzer Hengst zog am Wagen vorbei. Eola seufzte und wandte sich wieder Krümel zu.
“Das sagt sie nur so. Sie wird uns nicht zurücklassen. Dafür sind wir beide viel zu niedlich.”
Als die Sonne schließlich am Horizont verschwand und rote Schlieren über den Hügel zurück ließ, wurden endlich Rufe laut. Sie hatten Riedhalm erreicht. Eola sprang vom Wagen, bevor dieser in die Stadt rollte und lief zu Fuß hinterher. Sie wollte sich etwas die Beine vertreten und sah vom Wagen aus kaum etwas. Dann runzelte sie jedoch die Stirn. Riedhalm war nicht groß. Eine Ansammlung Hütten und Bauernhöfe, dazu ein Gehofft und ein kleines Anwesen im Norden. Westlich davon erhoben sich sanfte Hügel und in deren Schatten ein ganzes Meer an Zelten. Der König konnte so schnell noch kein Lager errichtet haben, alles dafür war in den Wagen verstaut. Nein, das hier war ein unbekanntes Heer, noch jemanden, der die Gunst der Stunde nutzen wollte? Bajka hatte nichts davon gesagt, dass sie in Riedhalm weitere Verbündete treffen würden. Sie musste lächeln, vielleicht färbte ihr Glück ja doch noch auf andere ab und dieses Herr würde ihnen beistehen. Und wenn nicht, wurde es immerhin nicht langweilig.
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